Lieber Elhadj,
in meinem Kalender steht für den 09.01.2018 notiert: Abfahrt vom Hotel um 8 Uhr, Zwischenstopp in Ndiongolor Tournal, Treffen mit dem deutschen Botschafter, Vertragsunterzeichnung der kommunalen Partner im Goethe-Institut Dakar, Abflug. Jeder einzelne dieser Punkte ist mit Emotionen, mit Bildern und Worten verbunden. Wir saßen vorne im Bus, du hattest keinen Hunger auf einen Schokoriegel und warst – wie alle Teilnehmer unserer Delegation – erfüllt und platt ob der zurückliegenden Tage. Wir kämpften uns durch den zähen Verkehr der senegalesischen Hauptstadt Dakar und hätten damals liebend gerne den kürzlich eingeweihten Zugtransfer zum Airport Blaise Diagne in Anspruch genommen. An besagtem Dienstagabend waren wir wirklich spät dran und doch war uns viel daran gelegen, noch ein Statement gemeinsam in die Kamera zu sprechen. Dass unser positives Fazit und der anschließende Handshake keine Fortführung finden würden, war niemandem klar.
4 Jahre, d.h. 1460 Tage bzw. über 35.000 Stunden sind nun schon seit deinem tragischen Unfall vergangen. Exakt vor einem Jahr berichtete ich davon, dass wir unseren ersten Förderantrag an deinem Todestag eingereicht haben und nun voller Vorfreude auf eine hoffentlich positive Reaktion warten würden. Besagter Brief samt Förderzusage erreichte uns Mitte des Jahres und seitdem haben wir auf Kaolacker und Osteroder Seite ein Tempo an den Tag gelegt, über das man einfach nur noch staunen kann.
Du hast allen Grund stolz zu sein auf deine Freunde der Association Koumbi Saleh rund um Bassirou Gakou, die es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, gemeinsam mit uns EDFlern den Bildungskomplex „Elhadj Mamadou Diouf“ zu realisieren. Wenn alles so gut weiterläuft, werden die ersten Baumaßnahmen in wenigen Wochen beginnen und man darf bereits von lachenden Kinderaugen träumen, die auf dem „Terrain de Coeur“ lernen, spielen und auf eine selbstbestimmte Zukunft vorbereitet werden. Zeitlebens warst du für die Kinder da – als Onkel, als Lehrer und einfach als Elhadj, den man in deinem Viertel kannte und schätzte. Du hast geteilt, ohne dass man es gemerkt hat und mitunter dich selbst vergessen. Noch immer habe ich die Traube an Kindern vor Augen, die sich um dich scharrte und auf wolof mit dir sprach. Man musste keines der Wörter verstehen, um zu erkennen, was hier gerade geschah: Du sprachst, alle Kinder hörten dir zu. Du fingst an zu lächeln und die Kleinen erwiderten das. Was du an diesem Tag an Proviant dabei hattest, wurde auf viele Kinderhände verteilt. Ja, so warst du und so mitmenschlich soll es auch in „deiner“ Schule zugehen.
Hinter uns liegt ein besonders herausforderndes Jahr: Die Pandemie hat unsere Welt noch immer fest im Griff und Begegnungen zwischen Osterode und Kaolack konnten lediglich virtuell stattfinden. Was hättest du bloß zu diesem Teil unserer Brücke gesagt? Du, der gemeinsam mit mir von SMS zu WhatsApp gewechselt ist und sein erstes Smartphone nur für den Brückenbau angeschafft hat. Tatsächlich konnten wir, auch dank des unermüdlichen Einsatzes deines Freundes und Kollegen Djibril Thiam, ein viel beachtetes Filmprojekt auf die Beine stellen. „Ein Tag auf der Welt“ wurde von so vielen Menschen angeschaut wie keiner unserer Filme zuvor, wir erhielten und erhalten Auszeichnungen für dieses ermutigende virtuelle Projekte, deren Drehbuch ein ganz normaler Tag hier wie dort war. Die von dir mal spaßig, mal ernst gemeinte Forderung nach einer „Begegnungspause“ zieht sich nun schon derart lange, dass wir uns unglaublich freuen auf die nächsten Incomings oder Outgoings.
Einer deiner Kernsätze war immer: „Wer die Jugend erreicht, erreicht viel.“ Wir haben hunderte junge Menschen zusammengebracht und ihnen durch einen Austausch auf Augenhöhe die Möglichkeit gegeben, ein Stück Welt selbst zu erleben, das häufig verzehrt dargestellt wird. Denn es gibt weder das Europa noch das Afrika, es ist nirgends nur gut bzw. nur schlecht, vielmehr liegt die Wahrheit sehr oft in der Mitte. Unsere Alumnis, die mittlerweile Studierende und teilweise schon Absolventen sind, berichten immer wieder von unvergesslichen und bereichernden Momenten, die ihr Leben geprägt hätten. Aus unserer ersten Delegation (2014) war in diesem Herbst Elhadji A. Ndong zu Besuch in Osterode. Sein Wirken, seine Worte und die Reaktionen der Deutschen haben mich so sehr an unsere Anfangszeit erinnert. Elhadji ist ein großartiger Botschafter unseres Brückenbaus und es ist ihm gelungen, schulisch und außerschulisch für unsere Vision der EINEN Welt zu werben. Über den Sport und seine Art hat er so viele Herzen geöffnet und bereichert und quasi nebenbei auch noch dabei geholfen, deine alte Grundschule und eine Osteroder Primarschule zu vernetzen. Elhadj, du hast als Lehrer und Vorbild deine Schüler*innen geprägt, wir können stolz auf derartige Junior-Botschafter sein, deren Engagement wir auch zukünftig benötigen für die große gemeinsame Sache.
So viele Orte, Momente und Menschen erinnern mich und viele andere an dich: die Färbung der Blätter im Herbst, deine Faszination für Pferde und deine Freude am Gespräch mit den Deutschen – du hast uns so oft gezeigt, was wirklich wichtig ist und was man im Alltag zu häufig vergisst. Schüler*innen, die du noch zu Lebzeiten getroffen hast, sind mittlerweile in der Oberstufe angekommen bzw. eine große „Brückenbauer-Generation“ hat im vergangenen Sommer das Abitur gemacht. Es ist unsere stetige Aufgabe, immer wieder nach neuen Interessierten zu schauen. Hier erinnere ich mich oft an deine Begegnung mit Frau Schröder-Köpf auf den Treppen des Niedersächsischen Landtages: Sie sagte zu dir bzw. uns, dass sie uns wünsche, dass es nicht bei einem einmaligen Treffen bleibe, schließlich wachse die Jugend ja immer wieder nach. Wenn wir etwas in nun bald 10 Jahren (!) unter Beweis gestellt haben, dann sicherlich, dass unsere Brücke keine Eintagsfliege ist.
Tatsächlich kommen Jahr für Jahr neue, nunmehr auch schon internationale Akteure in unser gemeinsames Boot. Über Umwege habe ich Kontakt zu in Kanada und Frankreich lebenden Geschwistern aufgenommen, die sich noch so lebendig und voller Freude an ihre Schulzeit auf dem einstigen Lycée Gaston Berger (heute LVND) erinnern können. Vielleicht, wer weiß das schon, seid ihr euch sogar auf dem Markt, beim Spielen auf der Straße oder auf dem Pausenhof begegnet. Wir haben vor Jahren ein Steinchen ins Wasser geworfen und Kreis um Kreis scheint noch immer dazuzukommen. Du sprachst immer vom „projet fou“ (= verrücktes Projekt), ich nenne es gerne „the story of our life“. Sicherlich erinnerst du dich auch an das einzige Autogramm, das wir beiden im Auswärtigen Amt 2016 nach unserem Auftritt auf der Bühne des Weltsaals (passender Titel) für amerikanische Kolleginnen schreiben sollten. Wenn uns damals jemand gesagt hätte, dass wir Jahre später auf so viele besondere Projekte verweisen könnten, was hätten wir wohl geantwortet? Übrigens: Keine Sorge, unsere verrückten Fotos aus der Fotobox wird niemals jemand zu Gesicht bekommen…
Nach Schulleiterwechseln und diversen weiteren Veränderungen stehen nun in wenigen Tagen auch Wahlen in Kaolack an, die sicherlich Einfluss auf unser Gesamtprojekt haben werden. Zudem konnte ich unsere Idee der Multiplikation- ich versäume keine Gelegenheit, das zu betonen – mit der Gründung des Netzwerkes „Niedersächsische Schulen MIT Afrika“ in die Tat umsetzen. Schade, dass du diese vielen besonderen Brückenbauer*innen nicht hast persönlich kennenlernen dürfen und dass du selbst nicht mehr direkt dabei sein kannst. Wir sind mittlerweile über 50 Partnerschaften mit zahlreichen afrikanischen Ländern – EINE Welt beginnt wirklich in den Schulen.
Besonders berührt haben mich Momente, in denen meine Tochter (mittlerweile auch große Schwester) nach ihrem afrikanischen Onkel fragt. Nicht nur, dass sie wissen möchte, ob „der gleiche Himmel überall hinzieht“, sondern auch, dass sie am Firmament nunmehr „Onkel Elhadjs Stern“ ausgemacht hat. Exakt vor einem Monat kam von ihr wie aus dem Nichts: „Wie hat Onkel Elhadj das (gemeint war das Aufessen aller Brotkrümel, um nichts zu vergeuden) immer gemacht? Jetzt ist er im Himmel, er kann uns aber noch sehen.“ Es ist der Alltag, der uns oft über dich sprechen lässt. Selbst ein Ausflug in den Bärenpark wird durch das Schild „Ferienparadies Pferdeberg“ (dort fing alles an und ich holte dich aus dem Sprachlernkurs heraus;-) plötzlich zu einem Elhadj-Moment. Das ist schön und herzerfüllend.
Tatsächlich – und das ist die zentrale Botschaft unseres Wirkens – sollten wir alle sehr glücklich über das sein, was wir mit dir und durch dich erleben durften. Du wirst, auch dafür stehen die Krankenstation und der Bildungskomplex in Kaolack, unvergessen bleiben.
In einem Jahr möchte ich dir von erfolgreichen Bauarbeiten, erfreulichen Anmeldezahlen, weiteren realen Begegnungen und vielen besonderen Brückenmomenten berichten. Wie hast du immer gesagt? „Unser Buch hat noch viele freie Seiten.“ Es ist an uns, die Geschichte fortzuschreiben…
In diesem Sinne
toujours ensemble – für immer vereint
Tobi
PS: Freunde dichteten nach deinem Unfall folgende Zeilen (in Auszügen), die uns allen aus dem Herzen sprechen und uns hoffentlich auch an Sonnentagen an dich erinnern:
„Früh aufstehen, spät ins Bett gehen.
So wie die Sonne im Sommer hast du gelebt, mein Freund.
`Ich bin ein Globetrotter`, hast du immer gesagt.
Mehr als das warst du doch für mich, mein Freund.
Denn die Grenzen hast du wohl überschritten
und dies mit der Geschwindigkeit eines Blitzes.
Voller Energie hast du sie jeden Tag zugunsten der anderen entleert.
(…) Auch für die Osteroder warst du wie die Sonne im Sommer.
(…) Es verbleibt die Hoffnung, dass du wieder anderswo eine Sommersonne wirst,
die noch schöner scheinen könnte.
Ruhe in Frieden.“
Zum Foto: Die Aufnahme entstand wenige hundert Meter vom zukünftigen Bildungskomplex. Elhadj zeigte uns damals ein zum Verkauf stehendes Gelände und träumte laut: „Vielleicht haben wir eines Tages ein Grundstück in Kaolack für unsere Brücke.“