Lieber Elhadj,
als ich auf den Tag vor drei Jahren von der Kaffeetafel einer Kollegin gen Wulften fuhr, wusste ich nicht, dass wenige Minuten später nichts mehr so sein würde wie zuvor. Wir hatten noch Sprachnachrichten ausgetauscht, wollten am Abend (so wie immer) weiter kommunizieren und unsere Liste gemeinsamer Pläne war sehr lang. Von der einen auf die andere Sekunde schien all das für immer zerstört: Der Anruf aus Kaolack – nie werde ich diesen Moment vergessen: Intuitiv war mir klar: „Drangehen, wichtig!“. Was dann folgte, ist häufig erzählt. Trotzdem kommt es mir nicht vor, als seien schon über 1000 Tage (!) ohne dich vergangen. Nein, immer noch denke ich bei jeder Reise nach Senegal daran, wie du freudestrahlend in der Empfangshalle stehst und sagst: „Die Deutschen sind da.“ An jedem deutschen Flughafen erinnere ich mich im Ankunftsbereich an unsere zahlreichen Begegnungen: Wie war der Flug? „Gut, aber das Essen war nicht sehr lecker.“ Worauf freust du dich? „Ich möchte in Ruhe mein Gebet machen, mich etwas ausruhen und dann mit meiner deutschen Familie Abendbrot essen. Dein Vater ist Senegalexperte, ich mag es, mit ihm zu diskutieren.“ Wann wollen wir morgen mit dem Projekt beginnen? „Gerne früh, ich bin zum Arbeiten hier.“ So warst du und das hat viele Menschen inspiriert.
Egal, wer dich wann und wo getroffen hat – beinahe alle können sich an den Moment und das Gespräch mit dir erinnern. Du hast die Menschen berührt und du berührst sie weiter. Ob die bunten Blätter im Herbst, das Ortsschild von Wulften, der Kornmarkt in Osterode, die Leute, die wir trafen oder die unzähligen Bilder im Kopf: Es vergeht kein Tag, an dem dein Name nicht fällt. Bassirou und ich tauschen täglich Nachrichten aus, für uns ist der Montag längst der „Jour de Elhadj“ und du bist für uns alle Ansporn, Verpflichtung und Zuversicht für die Jugend dieser Welt. Noch immer darf ich Überraschungen erleben, die mich beeindrucken. So erreichte mich anlässlich unserer virtuellen Dezember-Gala folgende Nachricht von deinem engen Freund, der in Irland lebt. Wir kannten uns bis dato nicht, doch du als Brücke, das verbindet: „Elhadj war einer der fürsorglichsten und freundlichsten Menschen, die ich jemals getroffen habe. Er hat immer versucht, anderen Menschen zu helfen. Er war immer erreichbar, um andere zu unterstützen und deren Leben positiv zu beeinflussen. Das ist eine große Lektion für die Menschlichkeit und für uns, seine Freunde. Zudem habe ich Elhadj niemals klagen hören über Schwierigkeiten des Lebens, die auch er zu überwinden hatte. Nein, er hatte immer eine solch positive Ausstrahlung und den Wunsch, Lösungen zu finden, anstatt sich in Selbstmitleid zu verlieren. Auch das sollten wir von ihm lernen. Es ist für uns Ehre und Verpflichtung zugleich, sein Wirken fortzusetzen.“
An dieser Stelle und in so vielen Momenten des Galaabends fühlte ich, wie lebendig du in den Worten, Herzen und Taten deiner Mitmenschen bist. Ob Adel Tawil, den du „von Anfang an mit deiner sanften und gutmütigen Aura begeistert hast“ oder Frauke Menger, die fordert, „es müsse mehr Menschen wie Elhadj geben“. Ob Joel Agnigbo, der den Namen unserer Stiftung „beachtenswert“ findet oder Elhadji A. Ndong, der in dir einen „Papa“ und „ein Vorbild fürs Leben“ sah. Ob die herzlichen Worte deiner Schwester oder der nach wie vor enge Kontakt unserer Familien – du hast da, wo du jetzt bist, allen Grund stolz zu sein auf das, was du zu Lebzeiten vollbracht und angeschoben hast. Die Saat ist aufgegangen. Wir haben uns versprochen, gemeinsam für diese Eine Welt einzutreten – „toujours ensemble“ war für uns mehr als eine Aneinanderreihung zweier Wörter. Überhaupt spüre ich bei jeder Galavorbereitung, wie intensiv wir sechs Jahre geteilt haben. Bilder kehren wieder, Situationen werden lebendig und in vielfacher Weise werde ich immer an dich erinnert. Als Vertreter der Elhadj Diouf Foundation darf ich in unterschiedlichsten Anlässen über unsere gemeinsame Geschichte sprechen. Wir sind die Anfänge der Brücke, aber glücklicherweise längst nicht mehr die Brücke alleine. Es engagieren sich so viele Menschen auf so vielen Ebenen und mit so viel Leidenschaft in unserem Herzensprojekt: Die EDF und AKS, unsere Kollegien, Schüler- und Elternschaften, der Osteroder Bürgermeister samt Team, unsere Schulleiter sowie zahlreiche private Unterstützer, Firmen und Prominente. Sie alle sind begeistert von der ehrlichen und menschenzugewandten Arbeit, die ihren Anfang in einer bloßen Mail im Jahr 2012 hat.
Mir sagte kürzlich wieder jemand: „Das ist filmreif und ihr macht deutlich, wie aus einer Vision Realität werden kann: Man braucht Mut, Zusammenhalt, Vertrauen und Herz.“ Exakt so, lieber Elhadj, sind wir durch die Welt gegangen. Unvergessen, wie du mir das erste Mal im Lehrerzimmer die Hand gabst und wie wir gemeinsam im Gras auf Eicheljagd gegangen sind. Im Rahmen einer Semesterarbeit hat mich ein junger Student in den Monaten rund um die Gala für ein Porträt „eng“ begleitet. Sehr schnell wurde ihm klar, dass meine und deine Geschichte an vielen Stellen kaum zu trennen ist. Sein Titel „Menschenfänger in zwei Welten“ hätte auch uneingeschränkt zu dir gepasst. Resümierend schreibt er über mich: „Er hatte keine Zeit, um zu trauern. Damals und bis heute nicht.“ Das stimmt, denn glücklicherweise gibt es so viele schöne Dinge, die uns auch weiterhin verbinden: In einem Jahr, in dem reale Begegnungen durch den Ausbruch der Corona-Pandemie unmöglich geworden sind, versuchen wir mit Unterstützung außergewöhnlicher Schülergruppen ein virtuelles Projekt (Ein Tag auf der Erde) zu realisieren. Chapeau auch für deine Deutschkollegen, sie leben diese Brücke! Unmittelbar vor Ausbruch der weltverändernden Virusausbreitung (ich las von einem „planetarischen Momentum“) reisten Anfang des Jahres 2020 erstmals alle drei Säulen des Osteroder Modells in deine Heimatstadt. Ob im Espace Elhadj Mamadou Diouf am Lycée, während der Begegnung mit Schülern, Lehrern und anderen Kaolackern oder beim Besuch deiner Familie – du bist weiterhin sehr lebendig in solchen Momenten. Ein ganz besonderer Tag war die Einweihung des „Salle Elhadj Diouf“ an der Privatschule Mboutou Sow. Nicht meine Zunge, sondern mein Herz begann über dich zu sprechen:
„Er war da für die Jugend. Wenn ich die Jugend sehe, dann sehe ich Elhadj. Elhadj Diouf war mehr als ein Lehrer, er war mehr als ein Bruder, er war vielmehr ein Botschafter: ein Botschafter des Senegal, ein Botschafter der Freundschaft und besonders ein Botschafter für die Menschlichkeit. Wenn ich über Elhadj spreche, dann spreche ich über jemanden, der viele Menschen inspiriert hat. Immer wenn wir uns entweder hier oder in Osterode am Harz trafen, haben wir zusammen gelacht, zusammen diskutiert und zusammen geplant. Wir haben tolle Momente und sehr traurige Situationen gemeinsam erlebt. Ich war an seiner Seite, als er die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhielt. Er war an meiner Seite als ich heiratete. Wir haben also Freude und Leid geteilt. Ich wünsche mir, dass der heutige Abend ein Abend der Freude wird, nur das verdient Elhadj. Er war immer da für das Volk, für ein Senegal, das offen ist gegenüber der Welt. Dank ihm könnt ihr heute eure deutschen Freunde dort auf der Tribüne begrüßen. Elhadj hat die Gastfreundschaft in die Osteroder Herzen und in die meiner Familie gepflanzt.“
Es gibt so viel Positives zu berichten: Wir konnten im PASCH-Raum, der deinen Namen trägt, unseren Kooperationsvertrag erneuern. Auf dem Schulhof von Sam 2 begegnete ich deinem Neffen. Voller Begeisterung kam er angelaufen, viele Kinder schauten uns beiden zu. Ich kniete mich samt EDF-Flyer in der Hand zu ihm: „Schau, hier ist dein Onkel. Das ist Elhadj.“ Sein stolzes Strahlen berührt mich bis heute, ebenso die Neugier und Ehrfurcht seiner Freunde.
Auch wenn wir zwei weitere geplante Reisen absagen mussten, die Brücke wird auch diese Herausforderung bewältigen. Eine besonders schöne Erinnerung habe ich mit Matthias Stach im Vorhinein der Gala und später mit vielen anderen Menschen geteilt. Wenige Tage vor deinem Unfall standen wir auf dem Nachbargrundstück von Bassirou und du sagtest zu mir: „Komm mit, das muss ich dir zeigen. Vielleicht entsteht hier ja eines Tages ein Haus Osterode.“ Heute kann ich dir erwidern: Wir, EDF und AKS, werden kein „Haus Osterode“, sondern die „Ecole Elhadj Mamadou Diouf“ errichten. Wenige hundert Meter entfernt vom damaligen Traum sollen in wenigen Jahren junge Menschen lernen, um sich als Eine Welt-Akteure für ihr Heimatland und andere einzusetzen. An deinem heutigen Ehrentag haben wir unseren ersten Förderantrag versendet, nun heißt es, Daumen drücken. Hoffentlich kann ich dir in einem Jahr bereits von angelaufenen Bauarbeiten berichten.
Das zweite Großprojekt, das „Cabinet Médical Elhadj Mamadou Diouf“, befindet sich im Maison Bleue, unweit entfernt von deinem Wohnhaus. Sicherlich bist du hunderte Male an dieser auffällig strahlenden Immobilie vorbeigeschlendert, die zukünftig vielen Menschen eine medizinische Grundversorgung ermöglichen soll. Ein Container wird sich bald auf den Weg nach Kaolack machen. Was wir vor vielen Jahren noch gescheut haben, ist nun aufgrund einer starken Mannschaft möglich. Du kanntest Doktor Ngom und du weißt, dass mit Bassirou einer deiner engsten Vertrauten die Verantwortung vor Ort trägt. Auch hier sind wir auf Kurs und ich freue mich auf zahlreiche Erfolgsgeschichten in den kommenden Jahren.
Wie in jedem Jahr, suche ich aus der Fülle bunter gemeinsamer Momente besondere Fotos heraus. Die heute ausgewählte Aufnahme stammt vom 7. Januar 2018. Völlig überraschend (oft habe ich darüber noch nachgedacht) hast du mich um ein Foto vor deiner Moschee gebeten, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft eures Wohnhauses befindet. Wer konnte ahnen, dass hunderte Menschen an gleicher Stelle sehr bald von dir würden Abschied nehmen müssen.
Kein Rückblick ohne Ausblick: Du hast im Rahmen unserer letzten Begegnung zu mir gesagt: „Tobi, vielleicht müssen wir gar nicht mehr nach der Lösung für eine bessere Welt suchen. Vielleicht ist unser Projekt die Lösung.“ Sehr oft und immer wieder denke ich über genau diese Aussage nach. Und so geschah es, dass meine Tochter mich beim Spielen mit Bauklötzen aufforderte: „Viele Brücken bauen, Papa.“ Vielleicht, nein sicherlich ist das die Lösung und genau daran arbeiten wir. Zwar nicht mehr mit dir, aber doch in deinem Sinne.
Selten war es wichtiger, optimistisch und zuversichtlich in ein neues Jahr zu blicken. Es sind harte Zeiten für die gesamte Welt, hoffentlich hast du recht: „Di na bax.“ – Alles wird gut.
Übrigens, heute wird es an vielen Orten besondere Elhadj-Momente geben: Der erste virtuelle Filmabend des TRG Osterode, eine Botschaft des Deutschexperten in Dakar, die gemeinsamen Gebete in Kaolack und all das, was jede/r Einzelne mit dir und diesem Tag verbindet.
Ruhe in Frieden, lieber Kollege, Freund und Bruder.
Gno far
Tobi
PS: Wenn ich abends mit unserer kleinen Tochter zu den Sternen blicke, dann berührt mich ihr mit strahlender Überzeugung vorgetragener Kommentar: „Hadj.“ Ich glaube ihr und Saint-Exupéry und freue mich auf noch viele Begegnungen via Himmelszelt.
Wulften, im Januar 2021